Sozial-ökologische Gestaltung im Anthropozän

Für eine nachhaltige Entwicklung im Anthropozän sind sozial-ökologische Transformationen notwendig. Der Handlungsdruck in der „Epoche der Menschheit“ ist angesichts der ungebremsten Umweltveränderungen mit all ihren Konsequenzen für Natur und Gesellschaft enorm. Wie können die notwendigen Transformationen gelingen? Die Wissenschaftler*innen des ISOE haben einen Ansatz für eine sozial-ökologische Gestaltung im Anthropozän entwickelt und in sechs Prinzipien übersetzt. 

Diese sechs Gestaltungsprinzipien bieten Orientierung für eine kritische Nachhaltigkeitsforschung, die Gestaltungsprozesse anstoßen und begleiten will, und eine Grundlage für alle, die sich sowohl wissenschaftlich als auch praktisch um Alternativen für gesellschaftliche Veränderungsprozesse bemühen. Die Gestaltungsprinzipien beschäftigen sich mit der Frage, wie Gesellschaft und Natur in Beziehung zu setzen sind oder wie mit den Grenzen von Gestaltung und wie mit Komplexität umzugehen ist. Sie thematisieren auch die Notwendigkeit, sozial-ökologische Systeme gegenüber absehbaren Umweltveränderungen widerstandsfähig zu machen und die praktisch wirksame Teilhabe aller betroffenen Akteure zu gewährleisten.

Eine ausführliche Erläuterung der Gestaltungsprinzipien findet sich in: Jahn, Thomas/Diana Hummel/Lukas Drees/Stefan Liehr/Alexandra Lux/Marion Mehring/Immanuel Stieß/Carolin Völker/Martina Winker/Martin Zimmermann (2020): Sozial-ökologische Gestaltung im Anthropozän. GAIA 29 (2), 93-97

Die Gestaltungsprinzipien liegen zudem als anschauliche Illustrationen vor.

1. Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur in den Mittelpunkt rücken

Klimawandel und Artensterben sind Ausdruck einer Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Eine Ursache dieser Krise liegt in einer grundlegenden Denkbewegung der Moderne, Natur nicht als eigenständiges Gegenüber, sondern als Objekt zu betrachten, das seinen Wert allein aus seinem Beitrag zur Sicherung der menschlichen Lebensbedingungen bezieht. Gestaltung muss sich deshalb zuvorderst auf das In-Beziehung-Setzen von Gesellschaft und Natur richten und sich dabei von der Idee eines Verhältnisses zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten leiten lassen. Je nach Gestaltungsaufgabe kann dies bedeuten, solche Beziehungen überhaupt erst wahrzunehmen, zu erhalten, wiederherzustellen oder ganz neu zu schaffen. Der Grad, bis zu dem dies gelingt, muss ein zentraler Maßstab bei der Bewertung von Handlungsoptionen sein. 


2. Koexistenz ermöglichen

Die Krisen der Gegenwart äußern sich in Prozessen der Verdrängung und Unterordnung, wie sie sich aus dem Motiv der Beherrschung und ökonomischen Inwertsetzung von Natur ergeben. Gestaltung muss demgegenüber den Erhalt oder die Herstellung von Bedingungen der Koexistenz ermöglichen. Koexistenz bezieht sich dabei zunächst auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen, umfasst aber auch nichtmenschliche Subjekte. Zu diesen Bedingungen gehören besonders die Offenlegung und die Entschärfung von Macht-, Verfügungs- und Geltungsansprüchen gegenüber anderen sowie die Anerkennung und den offenen, lernenden Umgang mit Differenz und Konflikt.


3. Grenzen abstecken und reflektieren

Ein wesentliches Merkmal des Anthropozäns sind fortschreitende Prozesse der räumlichen, zeitlichen und sozialen Entgrenzung. Gestaltung muss deshalb eine Perspektive der Begrenzung einnehmen, ohne im Vorhinein festzulegen, welche physischen, sozialen, politischen oder kulturellen Räume damit abgesteckt werden. Entsprechend muss Gestaltung ihre eigenen Grenzen reflektieren. Ihre Ziele müssen sich darin aus den Bedürfnissen der beteiligten Akteure und ihren Vorstellungen für ein besseres Leben in den konkreten Grenzen ergeben. Gleichzeitig muss Gestaltung sozial-ökologische Funktions- und Sinnzusammenhänge beachten, die über die gesetzten Grenzen hinausweisen. Dazu gehört vor allem, die Folgen der eigenen Lebensweise für andere zu erkennen. 


4. Mit Komplexität umgehen

Das Anthropozän steht für ein bisher ungekanntes Maß an Komplexität in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Gestaltung muss jede angestrebte Entwicklung deshalb als einen nur begrenzt steuerbaren Prozess verstehen. Dazu gehören ein reflektierter und transparenter Umgang mit Unsicherheit, Nichtwissen und divergierenden Problembeschreibungen, die Fähigkeit, Überraschungen zu verarbeiten und die Offenheit gegenüber alternativen Gestaltungszielen und deren Umsetzung. Gestaltung muss zudem die globale Reichweite lokaler Handlungen und die Konsequenzen der für Entscheidungen stets notwendigen Reduktion von Komplexität berücksichtigen. 


5. Widerstandsfähigkeit stärken

Gesellschaften weltweit sind bereits heute mit verheerenden anthropogenen Veränderungen ihrer natürlichen Umwelt konfrontiert. Diese werden selbst unter optimalen Bedingungen in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen. Gestaltung muss deshalb darauf ausgerichtet sein, in Umbauprozessen die strukturelle und funktionale Widerstandsfähigkeit sozial-ökologischer Systeme gegenüber den Folgen von heute bereits absehbaren Umweltveränderungen zu stärken. Gleichzeitig muss Gestaltung die funktionserhaltende Transformierbarkeit dieser neuen Systeme berücksichtigen. Dies erhält die Handlungsfähigkeit, sollte das Ausmaß der erwarteten Folgen oder mögliche künftige, derzeit noch unbekannte Umweltveränderungen ihre Widerstandsfähigkeit übersteigen. Zudem werden so Optionen für einen gegebenenfalls wünschenswerten Systemwandel offengehalten.


6. Teilhabe aller Akteure sichern

Formen des Ausschlusses, besonders von marginalisierten Akteuren, und die ungleiche Verteilung von Gestaltungsmacht sind weitere Kennzeichen der globalen, durch soziale und politische Antagonismen geprägten Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Aus diesem Grund muss Gestaltung als ein (basis-)demokratischer Prozess konzipiert und auf die praktisch wirksame Teilhabe aller Akteure eines Handlungszusammenhangs ausgerichtet werden. Voraussetzung dafür ist die Übersetzung und wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Interessen und Handlungsmöglichkeiten. Dabei kommt es besonders auch auf die methodisch gesicherte und damit transparente, transdisziplinäre Kooperation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft an, um situiertes, fallspezifisches Wissen für die Definition und Bearbeitung von Gestaltungaufgaben zu nutzen.